Rheinbach am Tag danach

Rheinbach, den 14. Juli 2021. Es ist ein verregneter Tag, an dem selbst die größten Optimisten nicht mehr von „gutem Wetter“ zu sprechen wagen. Gegen 16 Uhr nimmt der ohnehin schon starke Regen nochmal an Intensität zu. In der Beethovenstraße hört man immer häufiger die Feuerwehr ausrücken, ein Martinshorn reiht sich an das andere. Um kurz nach 18 Uhr dann der Stromausfall. Auch das Handynetz war weg. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Nachbarn war klar: Die ganze Stadt war davon betroffen. „Das letzte Mal, dass ich so etwas erlebt habe, war in den 60er Jahren“, sagte der Nachbar. Er war damals Leiter der Feuerwehr in Rheinbach. Spätestens jetzt ist also klar: Die Lage ist ernst.

Für uns hieß das zunächst: Taschenlampen, Kerzen, Streichhölzer und Batterien raussuchen und dann die Kinder ins Bett bringen. Unsere Tochter, fast drei Jahre alt, spricht gerade an diesem Abend ihr erstes Gebet: „Herr Jesus, bitte mach, dass es aufhört zu regnen. Amen.“ Und tatsächlich – obwohl noch für die ganze Nacht Regen gemeldet war, hörte der Regen am späten Abend auf.

Dann folgte die Bestandsaufnahme: Ein batteriebetriebenes Radio hatten wir nicht mehr, genauso wenig ein Festnetztelefon. Wir waren also völlig abgeschnitten von der Außenwelt. Erst am nächsten Morgen um sechs Uhr setzte ich mich in unser Auto und hörte zum ersten Mal Nachrichten. (Radio ist in Krisenzeiten einfach unverzichtbar!) „Teile Rheinbachs mussten evakuiert werden“, sagte der Moderator – und wünschte den Zuhörern anschließend noch eine gute Fahrt zur Arbeit. Für meine Selbstständigkeit im Homeoffice bedeutete kein Strom und kein Netz erst einmal keine Arbeit – zumal daran sowieso nicht zu denken war.

Um uns einen Überblick zu verschaffen, was wirklich los war, stiefelten wir nach dem Frühstück zu viert in die Innenstadt und merkten schnell: Wow, die Stadt sah echt verwüstet aus. Überall Schlamm und Matsch, und dann diese Steine. Warum liegen überall die Pflastersteine rum? Plötzlich dämmerte es meiner Frau: Das musste die Strömung gewesen sein, die die Steine einfach rausgerissen und fortgespült hatte. Und nach einigen Gesprächen mit den Anwohnern, Passanten und Helfern war uns klar, dass es große Teile Rheinbachs wirklich übel erwischt hatte. Von den Überschwemmungen hatten wir, nur wenige Straßen entfernt, kaum etwas mitbekommen.

Am zweiten Tag ist die Stimmung gereizter, müde und abgekämpfte Gesichter bei denen, die es besonders hart getroffen hat. Sie haben zu viele Schaulustige und neugierige Tagestouristen gesehen, sodass sie auch auf mich als Journalist und Fotograf gereizt reagieren. Eine Frau schmiert mir Schlamm ins Gesicht. „Ich konnte Ihnen ja nicht ansehen, dass Sie Journalist sind“, entschuldigt sie sich anschließend, als wir uns unterhalten. Ich habe großes Verständnis, auch wenn mir in solchen Momenten wieder neu bewusst wird, warum wir Journalisten so schlecht angesehen sind. Wir schauen zu, wo andere dringend praktische Hilfe benötigen. Würde aber niemand darüber berichten, wäre der Unmut auch groß …

Überall laufen Diesel-Generatoren, mit deren Hilfe das Wasser aus den Kellern gepumpt wird. Die Feuerwehr geht in manchen Stadtteilen von Haus zu Haus, um mit dicken Schläuchen den Prozess zu beschleunigen. Erst dann kann der Strom wieder angemacht werden, was in einigen Stadtteilen 48 Stunden oder länger ohne Strom bedeutet. Doch das ist nicht das Schlimmste. Erst nach und nach begreifen wir das verheerende Ausmaß der Flutkatastrophe: Eine Familie musste evakuiert werden, da eine Gasleitung beschädigt war und Gas austrat. Bei einer anderen Familie war es die Ölheizung, die auslief, das Öl lief in die Wohnung und schwappte zu den Nachbarhäusern, fortgespült von den Wassermassen. „Unser Haus können wir entweder abreißen lassen oder kernsanieren. Die Versicherung zahlt keinen Cent.“ Eine andere Frau weint, als wir einen Tag später die Inhalte aus ihrem Keller nach oben tragen. „Oh nein, das war mein Lieblings-Weihnachtsmann.“ Sie muss sich von viel Liebgewonnenem trennen.

Der Kontrast ist selbst innerhalb Rheinbachs groß. Während in einigen Stadtteilen noch Schlamm aus den Kellern und Geschäften geschippt wird, sehe ich einige Straßen entfernt eine Dame auf dem Boden vor ihrem Haus knien und das Moos aus den Fugen kratzen. Zur ähnlichen Zeit sagt ein Reporter der Deutschen Welle im Fernsehen, dass wir uns dauerhaft auf härtere Zeiten einstellen müssen. Doch das höre ich erst einen Tag später. Ich teile seine Einschätzung. Wie die Vorwehen einer Geburt muten Corona und Überschwemmung an. Ein junger Auszubildender sagte gestern treffend: „Das ist ja wie mit den zehn Plagen aus der Bibel. Was kommt da als nächstes?“ Er selbst sei an für sich nicht gläubig. Aber auch er spürt, dass das besondere Ereignisse sind.

Nach 47 Stunden ohne Strom ist die Freude groß, als er auch in unser Stadtteil wieder zurückkommt. Aber es hätte auch meine letzte Stunde sein können, denn ich stand in dem Moment bei einem Freund im Keller, zentimetertief im Wasser, auf der Suche nach der nächsten Kiste für den Müll. Leben und Tod – einmal mehr liegen beide Ereignisse so nah aneinander.

Als wir am Tag davor das umgedrehte Auto am Straßenrand liegen sehen und betroffen davorstehen, kommen wir mit einer Frau ins Gespräch: „Ich war mit meinem Sohn direkt gegenüber im Haus eingesperrt. Von links und rechts kam eine starke Strömung auf uns zu, aus dem Nichts. Es war wie zwei reißende Flüsse, wo eigentlich gar keiner ist. Alles ging so schnell. Ich dachte wirklich, dass jetzt unsere letzte Stunde geschlagen hat.“ Nur eine Straße weiter kamen tatsächlich mindestens drei Personen ums Leben. Eine 17-Jährige wurde unter ein Auto gespült und konnte sich nicht mehr befreien. Die Rettungskräfte kamen zu spät.

In den Parallelstraßen türmen sich die Berge an Gegenständen vor den Häusern. Ganze Keller waren geflutet und jetzt wird ausgemistet. Alles muss raus, alles ist kaputt und schlammverschmiert. Doch inmitten dieses immensen Schadens und Schocks kann man auch einen Zusammenhalt und eine Hilfsbereitschaft sehen, wie ich sie schon lange nicht mehr gesehen habe. An Masken und coronakonformem Abstand ist überhaupt nicht zu denken. Stattdessen wird angepackt und sich gegenseitig geholfen. Und überall sind die Leute miteinander im Gespräch, zeigen Mitgefühl oder machen einander Mut. Welch ein starkes Bild inmitten dieser Katastrophe!

Und das ist vielleicht auch die Chance in diesem Chaos: Dass wir wieder näher zusammenrücken, wo Corona und andere Krisen uns die letzten Jahre zunehmend getrennt haben. Sachschäden zumindest lassen sich leicht ersetzen, und entrümpelte Keller schaffen Raum für einen Neuanfang. Die Hoffnung ist also, dass wir etwas daraus machen und uns – im wahrsten Sinne des Wortes – nicht unterkriegen lassen.

Update 20.07.2021

Weitere Impressionen von einer von drei Sammelstellen allein hier in Rheinbach

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